Auf Retrospekt wählt Jihad Mastermind James Mendez einen individuellen Weg, um seinen klassischen Dark-Electro-Ansatz intensiver, ja sogar besser wirken zu lassen. Dass dieser gar nicht so ultradüstere Pfad wohliges Schauern provoziert, stellt keinen Zufall dar, ist bei diesem Projekt doch ein Musiker am Werk, der Retrospekt einen Vorlauf von deutlich über 20 Jahren spendierte. So lange liegt das bis dato einzige Jihad Studioalbum A Prayer In the Night (1997) nämlich zurück.
Jihad – Retrospekt
Obgleich Struktur, Intelligenz und Stimmungstiefe an die besten Zeiten des Dark Electros in den 90er Jahren gemahnen, zur Beschreibung von Retrospekt reicht dieser Hinweis nicht wirklich aus.
Einerseits bedient sich James Mendez gerne bei faszinierenden, verschachtelten Sounds, wie sie Mentallo & The Fixer oder seit geraumer Zeit Fïx8:Sëd8 so virtuos zusammenbrauen. Doch er integriert ein Stilmittel, das in der Vergangenheit bereits bei Benestrophe – ein Projekt von Dwayne & Gary Dassing, die später Mentallo & The Fixer gründeten, sowie Rich Mendez – gut funktionierte: Seine dezent effektbesetzten Vocals führen die Tracks ohne jegliches Overacting – und doch wirkungsvoll.
Der Künstler kontrastiert sich dadurch, schafft Distanz zu den ewigen Dauerfauchern des Clubelectros, die wirklich jeden vielversprechenden Track als heiseres Kirmiszombie verunstalten, er nimmt Abstand zu jenen vorsichtigen Hintergrundflüsteren, die es durchaus schaffen, Sound und Stimmung zu kreieren, aber im Verlauf eines kompletten Albums den Fokus verlieren.
Seine gewählten Stimmeffekte weisen einen futuristischen Charakter auf, lassen Gesprochenes anders – wie rückwirkend aus der Zukunft interpretiert – wirken. Stets sind die Worte gut akzentuiert, bilden Stimmungen, Perspektive, nahende Emotionen und Wendungen ab.
Sie untermalen die mitunter gar nicht so finsteren, sondern wunderschönen bis elegant designten Klanglandschaften eindrucksvoll – und hinterfragen selbige augenblicklich.
Dark Electro vom Feinsten
Somit funktioniert Retrospekt als bedrohlich anmutende Einheit sowie als Zusammenstellung intelligenter Nummern, die extrem gut von Vincent Uhlig gemastert worden sind. Trotz der immanenten Komplexität erfährt der Hörer durch tonangebende, klare Bässe, verspielte Sounds, gekonnte Flächen und dem erzählenden Vortrag die Gestalt der Nummern – etwa im fast optimistischen und vitalen Matter Of Perspective.
Es lohnt sich durchaus, dem stimmungsvollen Album der texanischen Legende, das angesichts vieler schleppender Mid-Tempo-Tracks eben nicht explizit auf die Clubs zielt, genügend Zeit zu geben. Die Dark-Electro-Injektion benötigt eine gewisse Zeit, bis sie ihr Ziel erreicht, Gehirn und Nerven wohlig reizend anregt.
Ob ausladend und soundtrackartig (Visions, We Believe) oder griffig bis wütend (The Prophecy), das 2020er Album Retrospekt verfolgt eine klare Idee, lässt nie Vision und Stimmung missen. Mitunter strahlt es jenen Effekt aus, als würde man etwas, das just um die Ecke entschwindet und somit Fragen aufwirft, gerade noch wahrnehmen.
Trotz der offenkundigen Homogenität stechen besondere Tracks heraus: The Patron God Of Embalmers und Degree of (Im)morality einen sämtliche Stärken des Projektes. Vielleicht lauern hier würdige Nachfolger für solch überragende Nummern der Vergangenheit wie Endangered Species von Benestrophe. Man sollte sie immer als dystopischen Doppelpack in Gang setzen.
Fazit: Qualitativer Dark Electro strahlt stets eine gewisse Magie aus – die Idee, dass Dinge anders sein könnten, wenn man nur tief genug ins Doppeldeutige eindringt. Auf Retrospekt bindet nicht nur die immersive, bisweilen wahrlich schöne Dunkelheit, es sind ebenfalls die futuristische anmutenden Vocals, welche Tiefgang und Verständnis spenden, bisweilen sogar in einem epischen Momentum enden. Welcome back.
Wertung: 8.5 von 10 Punkten (8.5/10)
Retrospekt Release Infos
Interpret: Jihad
Label: Eigenrelease
Release: April 2020
Stil: Dark Electro
Tracklisting:
01. (I Can’t) Let Go 08:08
02. Visions 05:23
03. Matter of Perspective 04:36
04. We Believe 06:10
05. The Prophecy 04:47
06. Twin Stranger 05:05
07. The Patron God of Embalmers 06:03
08. Degree of (Im)morality 06:20
09. Origins 05:38
10. Retrospekt 06:04
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