Review: Zweite Jugend – Der Wille Zur Nacht

Cover - Der Wille Zur Nacht

Cover - Der Wille Zur NachtLeben und Tod, Entstehen und Vergehen, Lust und Schmerz – dies sind die Urkräfte, die Nietzsche in seinem Konzept des Willens zur Macht beschrieb. Doch die Zweite Jugend hat Fragen: “Was aber, wenn dies eigentlich ein Ungleichgewicht darstellt? (…) Was, wenn das Vergehen der Dinge das Entstehen neuer Dinge erst bedingt? Sind wir nur Teil eines großen Ganzen? Oder gar Figuren in einer Simulation?” Eli und Marcel widmen sich auf ihrem 2023er-Album Der Wille Zur Nacht bedeutungsschwangeren Gedanken. Wie zur Hölle soll das denn klingen? Mal hören!

Zweite Jugend – Der Wille Zur Nacht

Eine gute Nachricht vorweg: Wer damals DAF und seit dem letzten Jahrzehnt der Zweiten Jugend frönte, kann gleich mal hierbleiben. Denn die Gedankenspiele und Botschaften der Band passen ganz wunderbar zum elektronisch-analogen Charme des aktuellen Sounds. Viele Passagen wirken ein bisschen nachdenklicher und interpersoneller als bisher. Doch jener Drive, welcher das Duo bisher stets prägte, geht dabei niemals verloren.

Albumübergreifend muss man Eli und Marcel besonders hoch anrechnen, dass sie in ihrem betont strukturierten Klang wieder und wieder für Abwechslung sorgen. Sei es Duktus, der extrem lebendige Schlagzeugeinsatz oder die Soundauswahl, immer passiert etwas – innerhalb und zwischen den jeweiligen Tracks. Dieser etwas Unruhe ausstrahlende Ansatz kontrastiert das Duo seit langem deutlich von DAF-inspirierten Bands mit weniger Talent, Esprit und Produktionsaufwand.

Mut zur Wehmut

Die bereits bekannte Herbstsonate leitet das neue Werk noch recht schwermütig ein, als recht schräger Opener fängt die Nummer den Charakter der Jahreszeit lyrisch und ästhetisch ein. Ohne Zweifel viel Mollstimmung für das Duo.

Wie wunderbar verspielt die beiden mittlerweile klingen können, zeigt das philosophisch-nachdenkliche Absoluter Nullpunkt. Dessen immersive Sequenzen strahlen eine Eleganz aus, wie sie große Namen vom Schlage Kraftwerk seinerzeit prägten. Die darauf platzierten skeptischen Vocals laden zum Interpretieren ein, denn die subjektiven Assoziationen kommen von selbst. Sämtliche Lines triggern Szenarien, die einigermaßen sensiblen Gemütern zumindest nicht völlig fremd sein sollten.

Reminiszenz rückt den persönlichen Aspekt des Albums in den Vordergrund. Ob Themen wie Erinnerung, Wehmut und Verlassensein – hier ist der passende Song dazu. Er kommt ganz ohne Wut aus, überzeugt durch die schlichte Existenz und die gnadenlos ehrlichen Vocals. Von DAF inspirierte und eben auch fortgeschriebene EBM – das bedeutet nicht nur, sich morgens einen Ziegelstein vor den Kopf zu knallen, oder? Es kann auch die verlorene, pure Emotion im elektronischen Raum sein.

Mittelgraue Gedankenspiele

Konzeptuell spielt der schleppende Titeltrack Der Wille Zur Nacht dann mit den oben skizzierten Nietzschen Überlegungen, um unmittelbar im energischen Refrain daraus auszubrechen. Unerwartete, ja fast experimentelle Sounds künstlicher Natur flankieren neben dem Titeltrack auch das folgende, trotzig anmutende Einer Muss Gehen.

Mit dem sarkastischen Highlight Mittelgrau nimmt das Album deutlich an Fahrt auf: Galoppierende, sich überschlagende Sequenzen heben sich auffällig vom allgegenwärtigen Mittelgrau deutscher Mundart ab. Ödnis als Thema, bunt und belebend im Klang ummantelt. Das Grau ergeht sich in Freude und Dynamik, präsentiert als Konkurrenz von Text und Ton.

Die Zweite Jugend und die Intimität

Viel Bewegung vor der Bühne strahlt ebenfalls Liebe Für Alle aus. Die Botschaft der Vorabsingle mit Gastsänger Martin Bodewell – empfohlen sei übrigens der auf der Vorabsingle befindliche geile Mix von Orange Sector – erklingt ebenso friedensstiftend wie eindeutig: “Liebe den Liebenden und Krieg den Kriegenden. Liebe für Alle, Krieg für Niemand!” Ein Slogan aus der Besserwelt, musikalisch eine sichere Nummer für EBM-Partys und solche, die es mal werden wollen.

Fragen und Widersprüche – darf ich …?

Beim Thema Liebe und Leidenschaft bleiben wir dann mal. Zumindest insistiert das sich selbst hinterfragende Das Totem darauf, ohne auch nur ansatzweise kitschig zu wirken. Vielmehr zieht der deutsche Text viele Lauschende schnell in seinen Bann, widmet sich dem Hin und Her der Annährung mit all den begleitenden Schattierungen und Zweifeln. Gabi Delgado (RIP) würde diese Nummer sicher feiern.

Sex

Nach der Einwilligung folgt der Akt, und zwar im Lichtspielhaus. Gar nicht so versteckt im Dunkeln, wie man anfangs meinen könnte: Denn die unmissverständlichen, aber nie vulgären Lyrics erhellen das stete Flimmerlicht der Lokalität, belassen es nicht bei einer Ahnung, was gerade geschieht. Vielmehr arbeitet die “Nummer” alle Geschehnisse geradezu wissenschaftlich ab. Einvernehmlicher Sex – nicht mehr und nicht weniger, weit weg von philosophischen Untiefen.

Romantik

An die Romantiker unter Euch denken Eli und Marcel postwendend: Was könnte schöner als ein Rendezvous draußen bei Nacht sein? Der besondere Moment entstehender Nähe spiegelt sich im (fremden) Sternenlicht, in den wenigen glasklaren bis anmutigen Sounds, womöglich in etwas Wein. Alles Weitere stört nur. Du und ich im Hier und Jetzt. Martin Buber und seine Gestalttherapie lassen grüßen; Purismus in Klang und Intellekt.

Abschied

Griffige Sägezahn-Sequenzen ertönen: Morgen Geht die Sonne auf. Der Kreis schließt sich, Magie und Der Wille Zur Nacht weichen dem Tag, die Zweisam- auch der Einsamkeit? Eli und Marcel packen Mikro, Schlagzeug und elektronisches Instrumentarium ein. Nicht ohne einen Appell im Schlusssong Ad Astra: “Finde mich.”

Fazit: Willensstark, inhaltlich trotz einfacher Botschaften anspruchsvoll und doch wehmütig-verliebt präsentiert sich die Zweite Jugend im so unruhigen Jahre 2023. Ihr philosophischer Kontext wirkt glücklicherweise nicht erschwerend, sondern inspirierend: Das Duo beglückt uns mit ebenso klar strukturierten wie “freshen” elektronischen Tracks, deren organische Spielfreude der allgegenwärtigen Trübsal nostalgisch den Marsch bläst. Auffällig viele persönliche Bittersweets prägen das Werk, sie brechen gewichtige Fragen auf das (nächtliche) persönliche Erleben hinunter. Ebenso gereifte wie fordernde Vocals von Eli sowie abwechslungsreiche Drums mit Wumms vom nimmermüden Drummer Marcel prägen das neue Epos. Erneut zählt ein Album der Zweiten Jugend zum Besten, was die EBM-Szene derzeit zu bieten hat. Anspieltipps: Reminiszenz, Mittelgrau, Absoluter Nullpunkt und Liebe Für Alle.

Wertung: 9.0 von 10 Punkten (9.0/10)Klangwelt Musiktipp

Der Wille Zur Nacht Releaseinfos

Interpret: Zweite Jugend
Release: Oktober 2023
Stil: EBM

Tracklisting:

01. Herbstsonate
02. Absoluter Nullpunkt
03. Reminiszenz
04. Der Wille Zur Nacht
05. Einer Muss Gehen
06. Mittelgrau
07. Liebe Für Alle (feat. Martin Bodewell)
08. Das Totem
09. Lichtspielhaus
10. Rendezvous
11. Morgen Geht Die Sonne Auf
12. Ad Astra

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