Bericht: Christmas Ball 2011 in Hannover

dirk evensAm 26.12.2011 gaben sich in Hannover Größen verschiedener elektronischer Genres die Ehre. Im Rahmen des Christmas Balls 2011 lieferten Front 242, Combichrist, Hocico, The Klinik und Solitary Experiments einen kontrastreichen und denkwürdigen Abend ab – in jeglicher Hinsicht.

Festivalbericht: Christmas Ball 2011 in Hannover

Der Christmas Ball 2011 in Hannover begann gleich mit einem “Klassiker”: Zuspätkommen trotz akribischer Planung. Gekonnt ist gekonnt – und Solitary Experiments waren derweil schon wieder verschwunden.

Ein Blick in die gut gefüllte Runde des Capitols zeigte viele EBM-Fans, das überraschte angesichts der Anwesenheit von The Klinik und den EBM-Urvätern Front 242 weniger. Dazu kamen, wie aus Hannover gewohnt, viele dunkel und eher unauffällig gekleidete Gäste in entspannter Stimmung.

Überraschend die vergleichsweise geringe Anzahl an erkennbaren Aggrotech-/Cyberfans, da hätte man wegen Combichrist mehr erwartet. Vielleicht war dieser Zielgruppe das letzte Album einfach zu rockig? Dennoch waren natürlich eine Menge Besucher auch wegen Combichrist gekommen.

Das Capitol wurde im Verlauf des Abends immer voller, glücklicherweise aber nicht so berstend wie vor zwei Jahren. Die Preise für Getränke zeigten sich ambitioniert, das Handling der Garderobe ab und an nervig. Aber im Mittelpunkt stand ja die Musik.

The Klinik

Gleich ein sattes Highlight zu Beginn. The Klinik fielen mit ihrem monotonen und düsteren Sound schon etwas aus den Rahmen. Die Inszenierung der beklemmenden Nummern kam hingegen grandios rüber. Eingehüllt in schwere Ledermäntel und den bekannten Mullbinden schaffte man eine dichte Szenerie mit klarem Sound.

Dirk Evens performte mit gezielten Gesten, energischer Stimme und konzentriertem Blick. Obsession und viele weitere Nummern gewinnen live einfach an Kraft, eine Art sterile Dynamik, die einfach psychisch bindet.

Passende Videoprojektionen führten die Gäste über dunkle, eckige Soundklippen in entfremdete Welten. Ein Auftritt zum Genießen mit wohligem Schauerfaktor. Er endete klassisch; Black Leather und Moving Hands zogen die Anwesenden in den Bann. Ein kurzer, aber gleichzeitig intensiver Gig mit einem Schuss monotoner Magie.

Hocico

Nach einer kurzen Pause ging es flux weiter. Hocico animierten mit ihrem gewohnt technoiden Sound und heftiger Verzerrung ihre anwesenden Fans zum Tanzen. Vom Start weg sorgte Sänger Erik Garcia a.k.a Erk Aicrag bei seinen Anhängern für Resonanz. Geeignete Projektionen mit Vorliebe für Insekten und Reptilien unterstrichen den morbiden Anspruch der Mexikaner.

Im Verlauf bemerkte man allerdings zunehmend den häufig gleichen Aufbau der vor allem auf Tanzbarkeit abzielenden Songs. Besonders neuere Nummern weisen mitunter einen fast matschigen Sound auf und spielen die Möglichkeiten elektronischer Klänge nicht wirklich aus. Für die Fans der Band dennoch sicher ein gelungener Auftritt, in dem natürlich Poltergeist seinen spukigen Platz fand.

Galerie: The Klinik & Hocico

Der Dank für das Bereitstellen der Bilder geht an © Lisa Weinert

Combichrist: Pleiten, Pech und Pannen

Dann kamen Combichrist. Von vielen gleich klingenden Aggrotech-Bands unterscheiden sich Combichrist allein schon durch ihr mittlerweile breiteres Musikspektrum. Hauptsächlich aber durch extrem wildes und rockiges Auftreten. Performance als Stichwort.

In Hannover kam ein Auftritt zustande, der hängen bleibt, wobei darauf vermutlich alle gerne verzichten würden.

Zwei Extradrummer, ein Gitarrist, das Synthpersonal und der wilde, fast wie ein durchgeknallter Rock ‘n’ Roller agierender Andy LaPlegua enterten zum monströs lauten Shut Up And Swallow die Bühne. Ein stattlicher Anteil der Gäste hatte genau auf diesen Augenblick gewartet…

Dann passierte es: nach dem Auftakt plötzlich knarrende, knarzende und explodierende Töne. Und während einige Hörer mit leuchtenden Augen wohl irgendwas in Richtung “voll Industrial” dachten, überholte sie die Realität. Das war nach Angaben der Combichrist Facebookseite passiert:

Last night in Hannover someone spilled a drink on the front of house mixing desk and the sound went out. We tried to play on for you guys by flipping our monitors so you could at least hear us at stage level, but there wasn’t much more than that we could do except walk off stage. Thanks for Bearing through the set with us and sorry, but this was not our fault, nor anyone else who we know of for that matter. These things just happen from time to time…. Excited for köln tonight!

Gravierend die Folgen: Das Mischpult gab den Geist auf. Außer den Extradrummern – die übrigens einen guten Job machten – und einigen verlorenen Basstönen war in weiten Teilen der Halle nur noch ein wabernder Soundbrei mäßiger Lautstärke zu hören. Kaum Stimme, keine Sequenzen und die Gitarre existierte klangmäßig bereits beim ersten Stück nicht. Combichrist drehten bald alle noch funktionierenden Boxen Richtung Publikum, was immerhin den ersten Reihen so etwas wie Sound brachte.

Der Band kann man bestimmt keinen Vorwurf machen, sie gaben alles und versuchten die peinliche Situation professionell zu retten. Aber natürlich glich die wilde Bühnenshow bei Abwesenheit der korrelierenden Akustik eher einer Slapsticknummer. Macht mal bei einer Comedysendung den Ton aus, das provoziert eine ähnliche Wirkung. Wobei – manche Shows hätten das sogar verdient, aber das ist ein anderes Thema.

Unverständlich, warum das Ganze nicht spätestens nach 10 Minuten abgebrochen wurde. Lieber einige mögliche Buhrufe hinnehmen und dann einen Neustart mit ersetztem Mischpult wagen – oder war das in der Zeit nicht möglich? So machte man gute Mine zum bösen Spiel.

Danach folgte eine sehr lange Pause, um ein Ersatzmischpult zu besorgen. Stimmungstief: Wie würde Front 242 ablaufen?

Front 242

Mit der visuellen Deklaration der Menschenrechte betraten Front 242 mit ihrem grandiosen Shout It Loud Intro spät, aber umjubelt dann plötzlich doch die Bühne. Für diesen Moment waren die Scharen gekommen. Kurzer Check: Bass, Drums, Sequenzen und Richards Parolen – alles gut zu hören. Es konnte losgehen.

Mit Triple X Girlfriend folgte ein Track des umstrittenen Albums Pulse (2003), dann legten die Electronic Body Music Altmeister richtig los: Moldavia, Tragedy For You, Lovely Day, Masterhit und No Shuffle fanden u.a. ihren Platz im ersten Drittel der Show. Der Fokus der Belgier lag klar auf dem Zeitraum Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre. Das Publikum dankte es den Belgiern mit viel Resonanz und gepflegter Toberei vor der Bühne.

Gut platziert die ruhigeren Stücke wie Circling Overland im Mittelteil der Show, Durchatmen kann so schön sein. Auffällig nach wie vor die Perfektion, mit welcher der drahtige Jean-Luc de Myer und Richard 23 sowohl stimmlich als auch räumlich harmonieren.

Front 242 mit Spielfreude

Jean-Luc kombinierte seine souveräne Stimme mit gewohnt eckigen und klaren Gesten, während der etwas fülliger erscheinende Richard 23 vor Energie geradezu explodierte. Der Spaß war ihm anzusehen, ein Einpeitscher voller Vitalität. Kraftvolle Versionen von Headhunter und Welcome To Paradise – natürlich mit dem kultigen und von allen verlangtem No Sex Until Marriage Sample – folgten. Alles begleitet von einer ideal abgestimmten Lightshow.

Take One und der Commando Mix strotzten vor subtiler Militanz und sorgten für spezielle Momente inmitten der treibenden Rhythmik. Im Hintergrund dabei stets die einfachen, aber passenden Visualisierungen. Im Rhythmus Bleiben befahlen Front 242, wer noch konnte, versuchte sich irgendwie daran zu halten. Stark, wie Richard 23 bei dieser Nummer grinsend abging.

Furioses Finale

Überraschend ertönte eine stimmungsvolle alternative Quite Unusual Version. Ohne Zugaben kamen Front 242 natürlich nicht davon. Punish Your Machine mündete im Licht-, Sound- und Shoutinferno. Man hätte den guten Auftritt nicht besser enden lassen können.

Letzter Punkt: Heimfahrt – “Check”. Bis bald.

Galerie: Front 242 & Combichrist

Der Dank für das Bereitstellen der Bilder geht an © Lisa Weinert



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