Gastreview: ‘Electrical Language – Independent British Synth Pop 1978–1984’

Cover: Electrical Language

Cover: Electrical LanguageBettina Müller (Jg. 1967) lebt in Köln und ist Autorin diverser Zeitungsartikel mit den Schwerpunkten Berlin, Kriminalgeschichte, Reise und Musik. Bis heute begeistert vom Classic Pop, Synth Pop und New Wave der 1980er Jahre, widmet sich die Verfasserin dem umfangreichen 4-CD Retrosampler Electrical Language – Independent British Synth Pop 1978–1984 von Cherry Red.

Electrical Language – Independent British Synth Pop 1978–1984

Es ist so eine Sache mit den Keyboards. Gibt man sie den Leuten in die Hände, kommen mitunter die komischsten, aber auch brillantesten Sachen dabei heraus. Gerade konnte die Musikwelt am Ende der 1970er Jahre noch verschnaufen, während im Hintergrund noch die Punks randalierten, da erschienen sie am Horizont als Gegenbewegung, die sich schließlich musikalisch in die unterschiedlichsten Richtungen entwickeln würde und aus der Popmusik der 1980er Jahre nicht mehr wegzudenken war.

Endlich erschwingliche elektronische „Klaviere“, auch Synthesizer genannt, mit denen man lustige Effekte erhaschen konnte, Beats automatisch abspielen konnte und so weiter und so fort. Repetitiv wurden sie dabei ganz oft und bargen so auch eine Gefahr, dass man sich an ihnen satt hörte.

„Cherry Red“: Spezialisten für Reissues

Die ganze Bandbreite des frühen Synth Pops hat das britische Label Cherry Red, welches auf Wiederveröffentlichungen von Raritäten spezialisiert ist, nun auf einer 80 Tracks umfassenden 4-CD-Box zusammengestellt. Independent British Synth Pop, so der Name, ist durch das Label Garant dafür, dass der Verantwortliche für die Compilation, Richard Anderson, eben nicht die „üblichen Verdächtigen“ mit aufgenommen hat, deren Hits man bis zum Erbrechen kennt (Human League, Depeche Mode, Soft Cell etc., tretet vor).

Es ist äußerst wohltuend, auch mal ein frühes Werk der Human League zu hören: Nämlich das düstere Circus Of Death, welches die B-Side von Being Boiled war, mit dem sie 1978 ganz am Anfang ihrer Karriere tatsächlich einen ersten kommerziellen Hit landen konnten, in die britischen Charts einzogen und so auch eine Zäsur einläuteten, die schlimmstenfalls vom Punk zum Popper mit Gardine vor einem Auge führte. Der Song war äußerst atmosphärisch, wenig zugänglich von der Thematik her, fast schon ein wenig gruselig.

Gruselsound

Circus Of Death hatte nichts mehr mit punkiger Aggression und Rebellion zu tun, hier kam man hinterrücks angeschlichen und erwischte den Hörer auf eine ganz andere Art und Weise, verstörte mit exaltierten Soundscapes und einer Symbolik, die schwer zu deuten, aber ungemein fesselnd war.

Vielleicht hatten Phil Oakey und seine Mannen aber auch einfach nur zu viele Science-Fiction-Filme geschaut: „Nine o’clock flight from Hawaii, The Trident is just touching down“. Mit der Lebenswirklichkeit der Menschen hatten die Lyrics eigentlich nichts mehr zu tun, eher war es eine Flucht in die Zukunft, in der vielleicht alles besser sein würde, Großbritannien war zu dieser Zeit politisch und gesellschaftlich schwer gebeutelt.

Die Gegenwart war oft düster und monoton, winterlich eben: Feels Like Winter Again, sangen schon Fiat Lux auf dem gleichnamigen Track mit leichtem Gothictouch.

Synth-Flut und die Überlebenden

So langsam schälte sich aus dem Wust von unzähligen Bands, die entweder im stillen Kämmerlein oder im elterlichen Wohnzimmer in die Tasten hauten oder sie nur sanft berührten, verschiedene Stilrichtungen heraus, trennte sich die Spreu vom Weizen, wurden sogar einstige Independent Synth-„Popper“ zu Stars: Human League und Orchestral Manoeuvres In The Dark sind bis heute aktiv.

Einige hatten für fünf Minuten Erfolg und sonnten sich ganz kurz im Ruhm, wozu zum Beispiel Blue Zoo gehörten, die klassischen Synthie-Helden, die es mit Cry Boy Cry in die Charts schafften. Natürlich gehört auch auch der bereits verstorbene Fad Gadget mit Rickys Hand dazu, der großartige Soundtüftler Thomas Dolby, die gruftigen Eyeless in Gaza, der Schotte Paul Haig, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Männerdomäne?

Tüftlerische Keyboarderinnen sind jedoch kaum vertreten, es scheint so ein Männerding zu sein. Ein Tiefpunkt der Box ist eine Coverversion, die so kitschig, dröge und einfallslos ist, dass man sie am besten schnell wieder vergisst: Children Of The Revolution der glücklosen Band The Fast Set. Das spult man als musikalisches Trüffelschwein am besten ganz schnell vor.

Und da sind sie dann auch, jene, die den großen Erfolg verdient hätten, aber sang- und klanglos untergingen, wie zum Beispiel The Passage mit ihrem verspielten und hymnenhaften XOYO, das entfernt an Godley & Creme erinnert, oder die völlig vergessenen Freeze Frame, denen mit Your Voice ein ohrwurmverdächtiger Popsong mit leichten Anklängen an den damals aufkommenden Brit Funk gelang.

Fazit: Kurzum: ein sehr spannender Ausflug in die Musikgeschichte, jedoch mit Abstrichen, zu veraltet klingt manchmal die Technik, sodass die Qualität der Songs das nicht immer wettmachen kann. Als Werkschau über die verschiedenen und mitunter kuriosen Auswüchse des Genres ist sie jedoch sehr zu empfehlen, denn es gab damals keinen Stillstand. Man musste immer weiter.

Wertung: 8 von 10 Punkten (8/10)

Electrical Language Release Infos

Format: Sampler
Release: Mai 2019
Label: Cherry Red
Stil: Retro, Synth Pop
Website der Verfasserin

Tracklisting:
CD 1:
01. Thomas Dolby – “Windpower”
02. Alan Burnham – “Science Fiction”
03. The Normal – “Warm Leatherette”
04. Alex Fergusson – “Stay With Me Tonight”
05. Colourbox – “Tarantula”
06. 100% Manmade Fibre – “Fantasy”
07. Testcard FG – “Bandwagon Tango”
08. Be-Bop Deluxe – “Elecrtical Language”
09. Dalek I – “The World”
10. Chain Of Command – “Honour Among Thieves”
11. Orchestral Manoeuvres In The Dark – “Red Frame/White Light”
12. The Legendary Pink Dots – “Red Castles”
13. Ice The Falling Rain – “Lifes Illusion”
14. Music For Pleasure – “The Human Factor”
15. Poeme Electronique – “She’s An Image”
16. Box Of Toys – “I’m Thinking Of You Now”
17. New Musik – “The Planet Doesn’t Mind”
18. Schlemeimer JK – “Hope Deep Inside”
19. Native Europe – “The Distance From Koln”
20. Voice Of Authority – “Technical Miracle”

CD 2:
01. The Human League – “Circus Of Death”
02. The Passage – “XOYO”
03. A Popular History Of Signs – “Crowds”
04. Chris & Cosey – “October (Love Song)”
05. Laugh Clown Laugh – “Feel So Young”
06. Basking Sharks – “Croatia”
07. Thomas Leer – “Mr Nobody”
08. Fad Gadget – “Ricky’s Hand”
09. Local Boy Makes Good – “Hypnotic Rhythm”
10. The Mobiles – “Drowning In Berlin”
11. Edward Ka-spel – “Even Now”
12. Passion Polka – “Lying Next To You”
13. Naked Lunch – “Rabies”
14. The Limit – “Do It”
15. Robert Calvert – “Work Song”
16. Quadrascope – “Baby Won’t Phone”
17. Electronic Ensemble – “It Happened Then”
18. Jeanette – “In The Morning”
19. Those Attractive Magnets – “Nightlife”
20. Beasts In Cages – “My Coo Ca Choo”

CD 3:
01. The Bodhi-beat Poets – “Your Love Is Like A Slug”
02. Eyeless Ni Gaza – “Veil Like Calm”
03. Camera Obscura – “Destitution”
04. Drinking Electricity – “Good Times”
05. Zoo Boutique – “Happy Families”
06. Fiat Lux – “Feels Like Winter Again”
07. Colin Potter – “Falling Downstairs”
08. David Harrow – “Our Little Girl”
09. Futurhythm – “It Never Rains In Outer Space”
10. Goat – “Zennor”
11. Final Program – “Videomatic”
12. Pink Industry – “Taddy Up”
13. Play – “You Don’t Look The Same”
14. The Fast Set – “Children Of The Revolution”
15. Two – “Trace Of Red”
16. Shox – “Lying Here”
17. The Builders – “Daytime Assassins”
18. Section 25 – “Beating Heart” (12″ version)
19. Joe Crow – “Absent Friends”
20. Faction – “Jamaica Day”

CD 4:
01. Tim Blake – “Generator (Laserbeam)”
02. Lori & The Chameleons – “Touch”
03. Jupiter Red – “The Secret Affair”
04. Blue Zoo – “I’m Your Man”
05. Jesus Couldn’t Drum – “Even Roses Have Thorns”
06. Techno Pop – “Paint It Black”
07. Kevin Harrison – “Chase The Dragon”
08. Thirteen At Midnight – “Other Passengers”
09. Freeze Frame – “Your Voice”
10. Time In Motion – “Stay With You”
11. The Toy Shop – “Live Wires Kill”
12. Analysis – “Surface Tension”
13. Paul Haig – “Time”
14. Solid Space – “Contemplation”
15. Martin O’Cuthbert – “Committed To Vinyl”
16. Science – “Look Don’t Touch”
17. Charlie’s Brother – “The Wishing Tree” (Megatree mix)
18. The Quarks – “Working Model”
19. Eddie & Sunshine – “There’s Someone Following Me”
20. Hybrid Kids – “Hapapy Xmas (War Is Over)”

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*